Sie geht am Meer spazieren. Allein. Der Sand rieselt zwischen ihren Zehen durch. Er ist noch kalt von der Nacht. Am Himmel ziehen bereits die ersten Möwen ihre Bahnen. Sie sind die Ersten. Immer die Ersten. Auf der Suche nach Fischen, die ihren glänzenden Kopf und die dunklen Augen etwas zu vorlaut, ja geradezu dumm aus dem blauen Tief stecken. Einmal nach Luft schnappen und dabei ihr Leben verlieren. So schnell kann es gehen. Zack und vorbei. Verschluckt von etwas Größerem, das sie in diesem Moment ihres Sterbens noch nicht einmal begreifen. Ines fröstelt. Sie zieht den Reißverschluss ihrer Fleecejacke ganz nach oben. Es ist noch zu früh, als dass die Sonne sie wärmen könnte. Bald. Bald wird sie genug Kraft gesammelt haben. Doch momentan steht sie nur blass da und guckt. Guckt, wie sich Ines ihren Weg bahnt. Die Füße schon etwas ausgekühlt. An ihrer Lieblingsstelle angekommen, nimmt sie ihre Crocs aus der Tasche und zieht sie sich wieder über. Immer das Gleiche. Hätte sie auch direkt am Haus anlassen können. Will es ja immer besser meinen, aber eine Erkältung riskieren? Natürlich nicht. Doch nicht mitten im Sommer! Wie Mary Poppins zieht Ines aus der großen Ikea-Tasche ihren kleinen Klapphocker, das Fellkissen, eine Thermoskanne mit heißem Grüntee, ihren Aquarell-Block sowie das Wasserglas und die Farben. Sie richtet sich in ihrem zweiten Wohnzimmer ein und nimmt ihren ersten Schluck Tee. Ein Ritual. Immer der gleiche Ablauf. Wie zuhause. Der Strand ist ihr vergrößertes Sommerhaus. Der Blick aufs Meer. Von allen Seiten verfügbar. Ins endlose Blau schauen und dabei die Seele streicheln. Nach vier Mal yogaähnlichem Ein- und Ausatmen nimmt sie ihre Pinsel und die Farben zur Hand. Versucht wie jeden Morgen im Sommer das Spiel vor ihren Augen auf Papier festzuhalten. Beige, Blau, Weiß, Grün, Gelb, Grau. Sechs Farben für ein Morgenspektakel der Natur.
„Was malen Sie denn da?“
Ines schaut aus ihrer Morgentrance nach oben. Direkt in die Sonne. Augen zugekniffen, schnell die Hand als Schutzschild an die Stirn.
„Sind Sie eine professionelle Malerin der Insel oder machen Sie das zum Spaß?“
Ines schweigt. Überlegt sich, wieso dieser Mensch, dieser Mann um sechs Uhr früh am Strand unterwegs ist. Ein Spaziergänger noch dazu. Kein Jogger. Keiner mit Hund, der mal raus muss. Der Hund.
„Ich habe Sie doch nicht erschreckt? Das wollte ich wirklich nicht. Darf ich?“
Und ohne ihre Ablehnung abzuwarten, setzt er sich neben sie. Auf eines dieser modernen sich selbst aufblasenden Sitzkissen. In den Sand. Neben sie. Ist dick eingepackt und scheint sich auf die morgendliche Frische gut vorbereitet zu haben. Er starrt auf ihr Blatt, und sie hat das Gefühl nackt zu sein. Schnell zieht sie sich an. Deckt ihr soeben Gemaltes zu.
„Och, schade. Das sah gar nicht schlecht aus.“
Gar nicht schlecht? Wer war dieser Kerl? Völlig arglos, ja nahezu unbeschwert sitzt er neben ihr. Jetzt in Augenhöhe.
„Ich finde es klasse, dass es hier so viele Maler und Künstler gibt. Auf der Insel, meine ich. Hier scheint die Kreativität förmlich Fuß gefasst zu haben. Sind sie von hier oder wie ich nur ein Zugereister auf Zeit?“
Keine Antwort. Ines findet keine Antwort, keine Replique. Wörter gesellen sich nicht vor acht Uhr zu ihr. Sie sind es nicht gewohnt. So früh. Zu früh. Sie kommen mit dem Frühstück und gehen nach dem Abendessen. Im Sommer dürfen sie sich diese Auszeit nehmen. Urlaub für die Sprache.
„Na, jedenfalls bin ich für eine Woche hier. Gestern angekommen. Herrlich. Diese Weitläufigkeit. Das kennt man in der Stadt gar nicht. Und dann diese Luft. So richtig zum Durchatmen….“
Es scheint ihn nicht zu stören, dass sie stumm neben ihm sitzt, ihn anschweigt. Anstarrt. Er plappert vor sich hin wie ein Kanarienvogel im heimischen Käfig. Wäre er doch dort nur geblieben. Hübsch anzusehen. Ein Zeitvertreib am Tag. Das Abdecken des Käfigs mit einem Tuch. Das in den Schlaf schicken des Vogels hat etwas Charmantes. Bei diesem Exemplar ist das Tuch zu früh gelüftet worden. Und so schickt er seine Erzählung in den Wind. Hofft darauf, dass sie Ines erreicht wie die ersten Strahlen der Sonne. Unbekümmert. Taufrisch.
„…ganz bei mir sein. Und dann erst diese Stille. Ein Genuss. Finden Sie nicht auch? Ich kann gut verstehen, dass Sie hierher kommen zum Malen. Das würde ich auch, wenn ich es könnte. Hierher kommen, meine ich. Aber Berlin ist einfach zu weit weg. Ach ja, und dann immer nur diese kurzen Auszeiten. Urlaub nennt sich so was. Haben Sie schon viel gemalt?“
Und er zeigt auf einen Stapel getrockneter Aquarelle vom Vortag. Die bringt Ines immer mit. Die Eindrücke vom Vortag. Manchmal, um sich zu inspirieren. Manchmal, um sich zu beruhigen. Um sich selbst zu finden. An diesem neuen Morgen im Sommer. Sie hat sie neben sich liegen. Beschwert mit einem Stein. Den sie bei einer Wanderung gefunden hat. Vor ein paar Jahren schon. Er ist flach und rund. Ohne Maserung. Ohne Kanten. Hat nichts Besonderes an sich. Fällt nicht weiter auf. Der Stein. Das gefällt Ines. Jetzt wird er von diesem ungewollten, ungewünschten Besucher in die Hand genommen. Hochgehoben. Schmiegt sich an das Fremde. Betrügt sie. Schmeichelt ihm. Der Verräter. Wie im Leben. Nicht wahr. Wie im Leben. In nichts unterscheiden sie sich. Der Stein. Der Mensch. Ines beißt sich auf die Lippen. Von einer Sekunde auf die nächste kann sich alles ändern. Und wie könnte es auch anders sein, wenn man nicht achtsam ist? Ein Windstoß. Kommt und fährt durch die Bilder. Hebt sie hoch. Spielt mit ihnen. Trägt sie fort. Noch bevor der Mann – ungewollt und ungewünscht – oder Ines nach ihnen greifen können. Schon sind sie ein paar Meter über den Strand geflogen. Im Spiel des Windes. Der Schelm. Hoch und runter. Drehen sich. Wirbeln umher und zeigen dem Morgen, wie der gestrige Tag aussah. Machen den heutigen eifersüchtig, da er noch nicht festgehalten ist. Schau her, schau her, kreischen die Aquarelle. Wir sind schon zu Papier gebracht. So schön waren wir. So ruhig lagen wir vor ihr. Gestern. So schön kannst du heute gar nicht sein.
„Oh nein. Oh nein. Das wollte ich nicht. Schnell.“
Der Mann springt auf und läuft den Gemälden nach. Will die Ausreißer einfangen, die ihre Freiheit genießen. Einen nach dem anderen. Rennt dabei dem Wind hinterher. Immer hinterher. Mal hierin. Dann dorthin. Während Ines sitzt und schaut. Und schaut. Dem Spiel zuschaut. Wie der Wind mit dem Mann. Wie der Wind mit ihren Malereien. Es ist ein Bücken und Hochspringen. Ein Rennen und Jagen. Ein Flattern und Wehen. Und Ines lacht. Lacht aus vollem Hals, der begeistert ist. Der es nicht mehr gewohnt ist. Sie lacht. Lauthals. Den Magen festhaltend. Lacht in den Wind. In den Morgen. Zu paradox das Bild. Befreiend. Ihre Muskeln, die sich spastisch zusammenziehen und lösen. Eine Befreiung. Ein Lösen von Blockaden. Im Zwerchfell. Von Ines.
Er hat sie alle eingefangen. Kehrt außer Atem zu ihr zurück. Ach wäre das schön. Und streckt ihr die Bilder entgegen. Hebt den Stein auf, den er im Sprung nach vorn achtlos fallen gelassen hat. Auch das wie im Leben. Bezeichnend. Sie lacht ihn an. Sie lacht ihn aus. Will jetzt reden, aber kann nicht. Die Wörter kommen nicht am Lachen vorbei. Stehen in der Schlange und drängeln nach vorn. Aber können nicht. Sie hält sich den Bauch mit einer Hand und zeigt mit dem Finger der anderen auf ihn. Und lacht. Eine Befreiung. Ein Lösen von Blockaden. Von Ines.
Der Mann ist eingeschnappt. Als plötzliche Belustigung – ungewollt und ungewünscht – identifiziert, ist er in seiner Ehre gekränkt. Schaut auf Ines. Wie sie lacht. Auf das Bild, das er in seiner Erinnerung gerne im Meer auswaschen möchte. Und geht. Geht schließlich mit einem Grummeln. Vor sich hin sprechend. Den Kopf schüttelnd. Das Lachen trägt der Wind ihm noch ein Weilchen hinterher.
Und Ines malt. Beige, Blau, Weiß, Grün, Gelb, Grau. Sechs Farben für ein Morgenspektakel der Natur. Als ob nichts gewesen wäre. An diesem Morgen. Ein Morgen wie immer. In diesem Sommer. In diesem Jahr. Sie hat den Stein auf ihren Bildern neben sich liegen. Verzeihen ist die größte Gabe. Dieses eine Mal noch.