Ich liebe meinen Bruder. Doch wirklich. Ich liebe ihn. Wir haben eine wunderbare Kindheit zusammen verbracht. Er ist immer da, wenn ich ihn brauche. Er ist einfühlsam, humorvoll, gut aussehend – eigentlich ist er all das, was ich mir von einem Mann wünschen würde. Wenn ich einen hätte. Leider, leider ist dieser Traum von einem Mann eben nur mein Bruder. Und da sind uns einfach gewisse Grenzen gesetzt. Nicht, dass es jemals sexuell zwischen uns geworden wäre, oder wir tatsächlich ineinander verliebt wären. Dennoch liebe ich meinen Bruder, und ich würde alles für ihn tun. Wirklich alles.
Vor drei Monaten hat mein Bruder nun geheiratet. Sandy. Allein schon der Name. Wie kann man nur Sandy heißen? Das geht doch nicht. „Ich will es aber so. Sandra find ich doof als Name.“ Ach, Mädel, denk ich dann immer nur. Deine Eltern hatten wesentlich mehr Grips und Verstand als du. Ich nenne Sandy Sandra. Zum einen weil meine Mundwerkzeuge sich außerstande sehen, bei Sandy mitzuspielen. Und zum anderen weil ich sie natürlich ärgern will. Sie, meine Schwägerin. Nun Teil der Familie. Ich weiß nicht, wo mein Bruder da hingeschaut hat, aber es war anscheinend ein Moment geistiger Umnachtung.
Ich kann gar nicht sagen, ob mein Bruder glücklich ist. Ich sehe ihn kaum noch. Sandra nimmt ihn völlig ein. „Wir sind eben frisch verliebt und verheiratet“, säuselt sie dann, wenn sie meine vorwurfsvollen Worte an Tim mitbekommt. Ich schaue meinen Bruder dann nur stumm an, der ebenfalls schweigt und meinen Blicken ausweicht. So so, frisch verliebt. Na, wenn das mal kein Trugschluss ist, liebe Schwägerin. Diese Ehe hält doch keine zwei Jahre. Petra meint ja, sie hält bestimmt vier, und mein Bruder lässt sich dann von ihr scheiden, wenn das zweite Kind gerade unterwegs ist. Aber so ist mein Bruder nicht – hoffe ich. Es stehen also zwei Jahre ohne Kinder gegen vier Jahre mit Kind und Embryo. Ich kann nur hoffen, dass ich die Wette gewinne und nicht Petra. Das kann Tim mir einfach nicht antun. Nicht noch mehr dieser Sandys in unserer Familie. Und dann wäre er ja auch auf ewig mit ihr verbunden. Ein schrecklicher Gedanke.
Zugegeben: Nach drei Monaten Ehe- und Sexglück (Sandy und Tim wohnen unter mir, und leider musste ich nun feststellen, dass die Wände unseres Hauses extrem dünn und Sandy extram laut sind. Sie kreischt beim Bumsen wie ein abgeschlachtetes Schwein) ist leider von einem Ende der Ehe noch nichts in Sicht. Friede, Freude, Eierkuchen wie am ersten Tag. Deshalb helfe ich nach ein paar weiteren Wochen des jungen Glücks mal nach. Ich streue ein Gerücht über Sandy mit dem Dieter. Dieter ist nämlich der Hallodri des Dorfes und hat schon unter so manche Schürze geschaut. „Hässlich, aber mit erstaunlich ausdauernden Qualitäten“, meint Petra. Aha. Einzelheiten will ich dazu von Petra gar nicht wissen. Ich kam nicht in den Genuss und kann es mir auch gut verkneifen. Einen Vorteil hat Dieter auf jeden Fall für mich: Er ist vielen Männern ein Dorn im Auge, und da kann es sicherlich nicht schaden, den ein oder anderen Verdachtsmoment einfließen zu lassen. Und siehe da: Schon nach ein paar Tagen hat mein Gerücht bei Tim Früchte getragen. Unter mir ist es nachts ruhiger geworden, dafür wird tagsüber häufiger gestritten. Ach was ist es schön, wieder ruhig schlafen zu können. Wenn wir in diesem Tempo so weitermachen, schlage ich mich selbst mit meinen zwei Jahren.
Ein anderes nicht zu vernachlässigendes Thema ist Oma. Unsere Oma ist alt, krank und fett. Sie ist ja eine nette Frau, aber zwischenzeitlich eben über 80, leidet an chronischem Bronchialhusten und diversen offenen Wunden und wiegt bestimmt über 120 Kilo. Zu viel, sagen die Ärzte. Lasst ihr doch noch das bisschen Vergnügen, meint ihr Sohn. Also schenkt ihr unser Vater fleißig Pralinen. Sandra hasst meine Oma. Sie findet sie abstoßend und widerlich. Tim hingegen liebt sie genauso wie ich – trotz aller Widrigkeiten. Also lasse ich Tim gegenüber hin und wieder fallen, wie schade es doch ist, dass sich nicht auch Sandy ab und zu in den Pflegerhythmus einbringt. Denn Oma fände sie doch toll, und da wir doch nun eine Familie seien, wäre es doch für Oma schön, wenn sie auch mehr von der Sandy zu sehen bekäme. Zwei Wochen später steht Sandra-Schatz mit einem Tuch und einem angewiderten Blick vor Oma und versucht beim Wunden säubern nicht zu kotzen. Ein göttlicher Anblick.
Nachts ist nun unter mir gar nichts mehr zu hören. Ich liege grinsend im Bett und freue mich für meinen Bruder. Nach knapp anderthalb Jahren ist tatsächlich der Tag der Scheidung da. Ich gratuliere meinem Bruder, der durchaus etwas geknickt aussieht. Endlich habe ich ihn wieder – wir sind einfach das Dreamteam vor dem Herrn. Nur heute hat er mir Sorgen gemacht. Da hat er eine gewisse Biggi angeschleppt und wieder verklärte Augen gehabt. Nachtigall, ich hör dich…