Eine Geschichte!

Der erste Urlaubstag ist fast vorbei, und ich konnte eine meiner Kurzgeschichten fertig stellen, die ich schreiben wollte, durfte, musste, sollte. Perfekt! Ihr wollt sie lesen? Bitte sehr:

Sie für ihn (Thema: Heimtückisch)

Er blickte auf das Stückchen Himmel. Tiefblau mit einer weißen Federwolke. Zur Aufheiterung. Damit das Auge sich nicht langweilt. Er hätte sich gerne auf der Wolke ausgeruht. Wäre dabei über das Land gezogen. Hätte nach unten geschaut statt immer nur nach oben. Gesehen, wie die Menschen ihrem Alltag nachgehen. Wie sie sich umarmten. Küssten. Zur Arbeit gingen. Einkauften. Wie sie ein Leben führten. Ein Leben. Er seufzte.
„Was jammerst du, Thomas? Hast doch gar keinen Grund mehr.“
Thomas stöhnte. Gerade eben war es ihm für zwei Minuten gelungen, Walter zu vergessen. Ihn zu ignorieren und zu vergessen. Allein zu sein auf diesen zehn Quadratmetern. Etwas Privatsphäre bitte. Es kam selten genug vor, dass Walter still war. Immer hatte der Alte was zu bequasseln, zu erzählen oder einfach nur so zu quatschen. So aus Spaß. Pure Freude und Lust, ihn dabei zu quälen, so schien es Thomas.
„Morgen biste raus hier. Und ich sitz immer noch da und zähle die Tage. Eintausendeinhunderachtundneunzig.“
Thomas zählte stumm. Eins. Zwei. Drei. Wenn er es bis zehn schaffte, ohne auszurasten, fühlte er sich als Sieger. Das gelang ihm selten, weil Walter es immer darauf anlegte. Er provozierte mit seinem ewigen Gequatsche. Ob das strafmildernd ausgelegt werden würde, fragte sich Thomas? Mit ihm musste der Richter doch Erbarmen haben. Das könnte er sich doch bestimmt vorstellen und es nachvollziehen, oder? Zehn Quadratmeter und so wenig Raum für Individualität. Für das Ich sein. Für das einfache, ruhige…
„Zweihunderteinundzwanzig.“
Arghhh! Bis sieben war er gekommen. Bis sieben! Die Zehn war schon zum Greifen nah.
„Jetzt halt endlich die Klappe, Walter.“ Thomas brüllte. Er beugte sich von seinem Stockbett herunter und versuchte, mit seinen Blicken zu töten. Der alte Herr schreckte einmal kurz zusammen.
„Is ja jut, Thomas. Ich halt ja schon die Klappe.“
Zehn Minuten. Zehn Minuten hatte Thomas nach seiner Erfahrung gewonnen. Stille. Ruhe. Das Jetzt vergessen können. Immerhin für zehn Minuten. Er schaute wieder auf das bisschen Himmel. Morgen würde er mehr sehen dürfen. Freiheit. Endlich. Schon so zum Greifen nah, dass die Vorstellung, einfach gehen zu können und zu dürfen, von Tag zu Tag unrealistischer wurde und heute nahezu unmöglich schien. Aber es war wahr. Er hatte die letzten knapp dreizehn Jahre hier verbracht. Mal in Einzelzelle. Mal zu zweit. Mit netten Kumpels. Mit Langweilern. Mit Grobschlächtigen. Und schließlich mit Walter, der ihn mehr Nerven gekostet hatte im letzten dreiviertel Jahr als alle, die davor waren. Kam ihm zumindest so vor. Aber morgen. Ab morgen nur noch er. Allein in einem Zimmer seiner Wahl. Mit Blick auf Grün. Den Tag so gestalten, wie er mochte. Kommen und gehen, wann er wollte. Machen und tun, was er entschied. ER. ER. Ab jetzt zählte nur noch er.
„Was wirst du morgen als Erstes tun?“
Und schon waren sie um, die zehn Minuten. Immerhin. Das bisschen Ruhe hatte ihn besänftigt. Die Gedanken an Freiheit und Selbstentscheidung beruhigt. Walter konnte ja nicht immer was dafür. Nicht immer für alles. Aber doch für vieles.
„Ich werde als Erstes ein Eis auf dem Martiniplatz essen. Bei Salvatore.“
„Ein Eis? Du hast sie doch nicht mehr alle! Wieso gerade ein Eis?“
„Weil Salvatore das beste Pistazieneis macht. Und ich schon dreizehn Jahre lang kein Eis mehr gegessen habe.“
Thomas wusste, dass es seltsam klingen musste. Wie ein kleiner Junge. Aber das war ihm egal. Er hatte so manchen Fraß hier im Gefängnis geschluckt. Erbsensuppe. Gulasch. Zähes Fleisch. Verkochtes Gemüse. Versalzene Soßen. Das war ihm alles nicht so wichtig. Aber Eis! Das Eis, was es ab und zu mal gab, hatte er immer stehen gelassen. Nichts konnte an Salvatores Pistazieneis heranreichen.
„Pistazieneis. Hm, ich mag ja lieber Sahneis. Cappuccino oder Joghurt.“
Es war Thomas egal, was Walter mochte.
„Meine Tochter. Die mochte auch immer gerne Pistazie. Und Zitrone. Sie meinte immer, dass Wassereis viel weniger Kalorien hätte und besser für ihre Figur sei. Dabei musste sie sich darüber nie Gedanken machen. Das liegt wohl an den Genen. Ihre Mutter war auch so ein Prachtweib. Ist es immer noch, wenn ich mir das so richtig überlege.“
Thomas sah sein Becher Eis schon vor sich. Auf dem Martiniplatz in der Sonne würde er sitzen. Wie jeder andere auch. Einfach sitzen und sein Eis löffeln. Vier Kugeln Pistazie. Und dann noch eines nachbestellen. Sahne? Nein, danke. Sahne brauchte er nicht. Aber einen Espresso dazu. Einen richtigen Espresso.
„Sie ist wieder in der Stadt, weiß du.“
„Wen meinst du, Walter? Deine Ex?“
„Die eh. Die wohnt ja immer noch in der Mittermeierstraße. Nein. Ich meine meine Tochter. Meine Tochter ist wieder da. Bei Herta eingezogen.“
„Vielleicht kommt sie dich ja mal besuchen, Walter.“
„Meinst du wirklich?“
Walter war aus seinem Bett gesprungen und schaute Thomas an. Hoffnung lag in seinen Augen, wie Thomas fand. Hoffnung, dass er Walter doch bitte bitte bestätigen würde, dass sie bestimmt bald kommt. Thomas kannte dieses Hoffen. Aber wer war er denn? Der barmherzige Samariter? Der Messias? Ein Engel?
„Nein.“
Er schaute knallhart in Walters Gesicht und freute sich, als er sah, wie die Hoffnung erlosch. Erstickte. Ertrank.
„Arsch.“
„Gern geschehen.“
Die nächsten zehn Minuten Ruhe, die er sich somit erkauft hatte. Leider hielt Walters Frust ja nicht lange an. Zehn Minuten und Schicht im Schacht. Vielleicht würde er ihn eines Tages vermissen. Thomas lachte stumm auf. Vermissen. Er Walter? Gewiss nicht. Er konnte nur hoffen, dass sein Nachfolger und Walters künftiger Zellengenosse ein ebenso geduldiger Mensch war wie er. Wenn Walter einen Prügelknaben bekommen würde, wäre es ziemlich schnell ziemlich vorbei mit dem Gequatsche. Na ja. Ihm konnte es egal sein. Er würde es nie erfahren.
„Silvia hat einen neuen Job gefunden. Deshalb ist sie wieder da. Sie ist richtig erwachsen geworden. Schau.“
Und als ob die Abfuhr vorhin nicht stattgefunden hätte, streckte Walter den Brief seiner Ex hoch. Immerhin schien sie ihn nicht völlig abgeschrieben zu haben. War doch nett, wenn die Ex ins Gefängnis schreibt. Aus der Ferne konnte man aber auch meist besser lieben als aus der Nähe. Die Ferne hatte so etwas beruhigendes. Weit genug weg und doch verbunden, aber bitte ohne Verpflichtungen. Man verstand sich halt besser. Konnte weniger streiten. Zumal per Brief. Da ging Streiten noch weniger. Vermutlich liebte Herta ihren Walter noch. Aus der Ferne. Und weil sie durch ihre Tochter verbunden waren. Thomas hätte auch gerne Post in die Zelle bekommen. Aber wer sollte ihm schreiben? War keiner da. Keiner mehr.
Er nahm Walter den Umschlag aus der Hand und holte den Brief und das Foto heraus. Den Brief ignorierte er. Hatte keine Lust, sich in die Fern-Idylle eines ehemaligen Ehepaares einzulesen. Er schaute der Höflichkeit halber und um Walter einen Gefallen zu tun auf das Foto. Eine junge Frau schaute ihn an. Ende zwanzig. Langes blondes Haar. Mit Pony. Thomas schluckte. Sie blickte recht ernst in die Kamera. Hatte ein Kostüm an. Mit gebügelter Bluse und einer Perlenkette.
„Nett.“
Thomas reichte ihm Foto und Umschlag runter. Er bemühte sich um einen absichtlich desinteressierten Ton. Er wusste, dass Walter ihn füttern würde. Füttern mit Informationen.
„Gell?! Gut schaut sie aus. Ist jetzt Anwältin.“
Da waren sie schon. Häppchenweise wurden sie ihm zurecht gelegt. Auf dem Tablett serviert.
„Als ich sie zuletzt gesehen habe, hat sie noch studiert. Jetzt ist sie bei Hoffmann, Wiedel und Partner eingestiegen. Kennst du die Kanzlei?“
„Nein.“ Wie sollte er alle Kanzleien der Stadt kennen. War ihm egal. Waren doch eh alle nur Abzocker. Gerechtigkeit bestand für sie auf dem Papier. Für ihn im Ausgleich. Hieß doch auch schon so. Ausgleichende Gerechtigkeit.
„Vielleicht kann sie dich früher raus holen, Walter.“
„Schön wär’s. Aber sie hat auf Familienrecht gemacht. Da ist nix zu holen.“
Thomas schaute wieder aus dem Fenster. Die Sonne musste langsam sinken, der Himmel sah schon recht blau-violett aus. Die Federwolke hatte sich weiter zerfasert und war die Erinnerung einer früheren Form. Ausgefranst. Ein Hauch Weiß. Zergangen.
„Du hast nur noch eine Nacht hier. Mensch, Thomas. Das hätteste auch nicht gedacht, oder? Dass der Tag mal noch kommen würde.“
„Hm“, murmelte Thomas nur. Nur noch wenige Stunden. Dann Freiheit. Pistazieneis. Und dann ne Frau. Aus Gerechtigkeit. Hatte sie gut verdrängen können. Zum Erinnern war auch kein Anreiz da. Wurde ihm keiner gegeben. Aber jetzt. Ausgleich für zweihundertirgendwas Tage.
„Dreizehn Jahre. Mannomann. Das ist echt mal ne Zeit.“
„Hm.“ Frauen. Muschis. Ah, so lange hatte er keine mehr gehabt. Ausgeklammert. Jetzt wieder voll da. Die Erinnerung. Das Verlangen. Und wieso auch nicht? War doch auch nur Mensch. Er. Mensch.
„Ich habe noch…“
„Ich weiß, Walter. Du hast noch eintausendxy Tage vor dir. Das sind noch gut drei Jahre.“ Hm, der Gedanke daran. Pistazieneis zuerst. Dann ne Frau. Genau in der Reihenfolge. Er musste vorsichtig sein. Und besser als das letzte Mal. Ohne Spuren.
„Fast vier, Thomas. Fast vier.“

Am nächsten Tag saß Thomas auf dem Martiniplatz bei Salvatore. Er hatte seine zweite Portion Pistazieneis vor sich und löffelte genüsslich. So gut. So gut. So weich und kühl. Zartschmelzend. Mit richtigen Stückchen der Nuss. Konnte man beißen. Knackig und doch etwas weicher. Er löffelte sein Eis aus und zahlte. Euro. Neue Währung für ihn. Immerhin hatte ihm die Gefängnisleitung seine DM, die er damals mitgebracht hatte und abgeben musste, in Euro umgetauscht. Kümmerte sich um alles, der liebe Vater Staat. So nett. Nur für das Eis. Thomas stand auf. Gesättigt. Wohlig war ihm. Er ging auf einen Stadtplan zu, der am Martiniplatz im Schaukasten hing. Das war neu. Ihm zumindest. Aber in dreizehn Jahren konnte sich auch einiges ändern. Für die Besucher und Touristen. Wie praktisch. You are here. Stand da. Wo er stand. Im alphabetischen Verzeichnis suchte er die Mittermeierstraße. Fand sie. Und ging los. Blond hatte ihm immer schon am besten gefallen.

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