O willkommner Dolch! Dies werde deine Scheide.

Zwei Scheiben Brot, eine Scheibe Schinken aus der Lidl-Packung, eine Scheibe Käse – ebenfalls von der billigen Sorte – zwei kleine Essiggurken und als Nachtisch einen schon etwas schrumpeligen Apfel. Mehr brauchte Mathilde nicht für ihr ganz persönliches Galadinner. Das würde sie satt machen, und nur darauf kam es noch an. Die zahlreichen Festmahle, die abertausende von Amuse gueules, Hors d’oeuvres, Zwischengang, Hauptgang, Desserts – sie wusste nicht, wie viele dieser Art sie in ihrem Leben schon gegessen hatte, und sicherlich waren sie alle mehr oder wenig köstlich und unvergesslich gewesen, aber jetzt war es gut. Seit einigen Jahren schon war es gut. Kalorien über Kalorien, die Menschheit wurde immer fetter, Diätbücher und Fitnessprogramme beliebter und Herzerkrankungen und Schlaganfälle nahmen zu.

„Im Alter braucht man eben weniger“, pflegte sie immer zu sagen, wenn sie in die Verlegenheit kommen sollte, dass jemand sie auf Essen ansprach, was selten genug der Fall war. Sie arrangierte die zwei Brotscheiben hübsch auf ihrem Teller zurecht und schnitt die Essiggurken in Streifen. Schließlich war ja Silvester, da durfte es ruhig etwas ausgefallener sein. Mathilde lächelte. Welcher Zynismus! Früher hätte sie Brotscheiben und noch dazu Essiggurken links liegen gelassen, sie hatte ihre Mutter sogar belächelt, als diese ihr in einem ihrer zahlreichen Streitereien vorgeworfen hatte, dass sie oberflächlich und kalt sei und ja doch nur an Schein, Glitzer und Gloria interessiert sei, während sie selbst in ihrem Alter ja weise wurde und ihr auch einfaches Brot statt Hummer und Kaviar reichen würde. Belächelt hatte sie sie damals und ihr kühl erwidert: „Wer so aussieht wie du und so lebt wie du, der sollte sich auch besser nichts mehr aus Glitzer und Gloria machen, Mutter.“ Und dann war sie abgerauscht zu einem der zahlreichen Feste, die heute in der Erinnerung zu einem rauschenden Ball verschmolzen, sich aber nicht voneinander unterschieden. Und was war heute? Heute sah sie aus wie ihre Mutter und aß wie ihre Mutter. Nur die ollen Schürzen, in denen ihre Mutter Tag und Nacht zu leben schien, die würde sie sich auch im Alter nicht antun.

Mathilde trug ihr ganz eigenes Silvestermenü ins Wohnzimmer und stellte den Teller und den Glasteller mit dem aufgeschnittenen Apfel auf den kleinen Beistelltisch neben ihrem Sesselchen. Noch eine Serviette aus der Kommode holen, dann konnte der Abend beginnen. Von außen waren bereits die ersten Böller und Feuerwerkskörper zu hören. Sie lächelte: Immer diese Jugend. Sie konnten es einfach nicht erwarten. Jedes Jahr gab es ein paar, die schneller sein wollten als die anderen. Daran würde auch die Zeit und all die neuen Jahre nichts ändern. Mathilde schaute aus dem Fenster. Es schneite. Dicke, weiße Flocken schwebten sanft auf den Boden. Morgen würde eine schöne dicke Schneedecke die Stadt einhüllen und die Geräusche abdämpfen. Wieder knallte es, dieses Mal sehr nah an ihrem Haus. Mathilde zuckte kurz zusammen. „Spinner“, murmelte sie und setzte sich mit ihrer Serviette auf ihren Sessel. Sie schaltete den Fernseher an.

Mit ihrer Fernbedienung lief sie durch die Programme. Eigentlich kam das Übliche. Bunter Abend im Ersten, Volksmusik und Musikantenstadl im Zweiten, die Aufzeichnung eines Theaterstücks aus den Sechzigern auf den Dritten und dann eigentlich nur irgendwelche Filme aus Hollywood auf den Privaten. Sie hätte genauso gut das Fernsehprogramm vergangenes Jahr aufzeichnen und jetzt abspielen können. Es hätte sich durch nichts von diesem hier unterschieden. Und wer weiß, vielleicht taten sie das ja auch im Sender? Schließlich blieb sie bei Arte hängen, wie so oft. Immerhin noch ein Sender, der ab und zu neuere Theateraufzeichnungen brachte. Heute im Programm: Shakespeares Romeo und Julia in einer Neuinszenierung am Wiener Burgtheater. Mathilde biss in ihr Schinkenbrot. Sie hatte zum Glück noch nichts verpasst. Hätte das Stück schon angefangen, hätte sie weitergeschaltet. Sie hatte es immer verachtet und gehasst, wenn sich Leute nach einem verpassten ersten Akt noch ins Theater schlichen. Wussten diese Banausen denn gar nichts vom Theater?! Der erste Akt war entscheidend für den ganzen weiteren Abend. Er legte den Grundstein für die Geschichte, er stimmte die Zuschauer auf die Atmosphäre ein, er war Wegbereiter und für die Schauspieler innere Vorbereitung auf eine glanzvolle Leistung. Und auch wenn diese Zuschauer noch so leise sich durch die Reihen schlichen und möglichst geräuschlos ihren Platz einzunehmen versuchten, so war doch immer ein Rascheln, Raunen und Getuschel zu hören, das selbst bis vor auf die Bühne drang. Für Schauspieler eine echte Qual, und so manches Mal hätte Mathilde gerne das Stück unterbrochen, um diesen Kulturverächtern unten zuzurufen, dass sie keinerlei Respekt vor ihrem Auftritt hätten.

Natürlich hatte sie das nie gemacht. Immer hatte sie brav weitergespielt oder hinter dem Vorhang versucht, ihren Unmut darüber zu unterdrücken. Jetzt der erste Auftritt von Julia. Sie war ein hübsches Ding. Gut ausgesucht und natürlich, wie derzeit alle Aufführungen, auf modern gemacht. Sie trug Jeans und ein Kleid, das über ihre Jeans bis zu den Knien reichte. Romeo hatte solche Hosen an, die unterhalb der Hüfte ansetzten, und bei denen Mathilde nie verstanden hatte, wie die jungen Männer diese Hosen anbehielten und warum diese nicht vollends herunter rutschten und alles entblößten. Romeo und Julia. Ein Meisterstück. Wer diese Rollen spielen darf, der konnte sich glücklich schätzen. Diese Sprache, diese Eleganz, diese großen Gefühle! Mathilde hielt in ihrem Brot inne und sprach hin und wieder ein paar Zeilen mit. An manchen Text konnte sie sich noch gut erinnern, andere Passagen waren im Nebel ihrer Erinnerung untergegangen. Julia, ach Julia. Ihre große Rolle, ihr Durchbruch in Berlin. Sie war ein gefeierter Star, gefragt, begehrt, gelobt und gerühmt. Mit der Rolle als Julia hatte sie es als Stern an den Bühnenhimmel geschafft, stand neben Heinz, Michael und Paul auf den Brettern, die ihre Welt bedeuteten und ihre Welt waren. Lag auch neben vielen von ihnen im Bett, manche begleiteten sie über mehrere Stücke, Bretter, Betten durch ihr Leben. Friedrich etwa. Friedrich war Othello und Faust, Hamlet und Godot. Mathilde war Iphigenie, das Käthchen, Lady Macbeth und Brunhild. Gemeinsam standen sie für die Räuber, Geschlossene Gesellschaft und so manches neuere Stück auf der Bühne, deren Namen sie längst vergessen hatte, weil sie weder sprachlich noch von der Geschichte her so interessant gewesen waren, dass sie Mathilde oder die Zuschauer lange getragen hätten. Und natürlich war Friedrich auch Romeo und sie die Julia gewesen.

Mathilde stellte den leeren Teller auf das Tischchen zurück und nahm sich eine Apfelscheibe. Sie war zwischenzeitlich nicht nur außen schrumpelig, sondern innen angelaufen. Wie sehr sich Mensch und Apfel doch glichen. Sie biss hinein, verzog ihr Gesicht und spuckte das Stückchen im Mund zurück auf den Glasteller. Dann lieber keinen Apfel, als dieses mehlige und pampige Etwas. Ohne Dessert ging es auch. Das hätte sie zwar früher nie zugegeben, aber heute lagen die Dinge eben doch anders. Sie war alt und einsam, die meisten ihrer Freunde und Bekannte bereits lange tot. Friedrich auch. Der große Friedrich. „Du warst so viel besser, Friedrich, als dieser junge Romeo hier“, sprach Mathilde zu sich selbst. „Wobei er seine Sache nicht schlecht macht, das muss ich zugeben. Und sie? Julia? Hmm. Bin ich mir noch nicht sicher. Die letzte Szene wird es zeigen.“

Denn die Sterbeszene in der Gruft, wenn Julia erwacht und Romeo nicht mehr lebt, dann zeigt sich erst die wahre Größe der Schauspielerin in ihrer Rolle. Oder eben nicht. Bei Romeo und Julia kam es für die Julia nur auf den Schluss an. Wie sie erwacht, wie sie feststellt, dass ihr Liebster nicht mehr lebt, wie sie versucht, noch einen letzten, verzweifelten Tropfen der Ampulle zu entlocken. Wie sie schließlich zum Messer greift – eine Todesart, die eine Frau sonst vermutlich nie wählen würde, da zu brutal, da Körper zerstörend. Doch sie tut es. Julia tut es. Sie zückt schließlich das Messer. Entweder ein Leben mit Romeo oder keines. So einfach war die Entscheidung für sie. Und so rammt sie sich die scharfe Klinge in die Brust und stirbt, stirbt, stirbt. Tränen standen in Mathildes Augen und rollten schließlich hinab über ihre Wangen und auf ihre Hand. Was für eine Rolle, was für ein Ende. „Oh ja, auch Julia hat ihre Sache gut gemacht, Friedrich. Siehst du? Sie ist für ihn gestorben. Keine Kompromisse. Du hättest bei Julia bleiben sollen, statt dich um Mathilde zu bemühen.“ Sie blickte noch auf das Fernsehbild und sah die letzte Umarmung der beiden Liebenden und Toten vor sich, als Arte schon längst die Aufzeichnung des Zirkus von Monaco ausstrahlte. Noch immer liefen Tränen nach, die aus einem nicht versiegenden Brunnen zu kommen schienen. Friedrich und sie. Mathilde und er. Immer nur für eine Dauer, nie für immer. Sie hatte nicht den Mut der Julia, gespielt nur auf der Bühne, die völlige Hingabe, die Aufopferung an einen Menschen. Auf den Brettern und so manches Mal im Bett war das kein Problem. Doch im Leben. In diesem, ihrem Leben war sie nicht so großartig, so edel, so mutig. Da hatte sie Angst vor dem ständigen Du und Wir. Da waren das Alter und ihre Mutter abschreckende Beispiele und Dinge, die sie nie akzeptieren wollte. Da wollte sie Feste, Ruhm und Ehre und alles, alles bloß keine Bodenständigkeit und schon gar keine Ehe. Was war sie damals jung und stur und dumm. „Im Alter wird man eben doch weise, Mutter.“

Mathilde putzte sich die Nase und stand auf. Sie stellte sich ans Fenster und blickte auf die schneebedeckte Stadt. Die Glocken schlugen zwölf. Das neue Jahr hatte begonnen.

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